von Jeremy Kareken & David Murrell und Gordon Farrell

Inszenierung: Ute Richter

Premiere der Deutschsprachigen Erstaufführung: Do 28. November 2019

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Es spielen:

Der beharrliche junge Praktikant Jim ist dabei, Ärger zu machen. Die anspruchsvolle Chefredakteurin eines Hochglanzmagazins hat ihm eine große Aufgabe gestellt: er wird beauftragt den Wahrheitsgehalt eines 15-seitigen Essays zu überprüfen, den der berühmte unorthodoxe Autor John D’Agata über den Selbstmord eines Teenagers in Las Vegas geschrieben hat. Dafür hat er nur fünf Tage Zeit, produziert aber eine 130-seitige Tabelle, die seine Fragen umreißt. Einige sprechen greifbare, wenn auch strittige Details an: Waren die Pflastersteine am Ort des Geschehens rot oder, was weniger interessant wäre, braun? Einige sind erkenntnistheoretisch: Wie konnte D’Agata wissen, was er nicht hatte sehen können? Und einige deuten darauf hin, dass der Autor tief in das Gebiet der Fiktion eingedrungen ist. Der ultimative Showdown zwischen Fakt und Fiktion beginnt. Am Ende haben die Kontrahenten ihren Kampf in einem Buch festgehalten, das wiederum einem Autorentrio die Vorlage für dieses Theaterstück lieferte. Es zeigt auf höchst originelle und unterhaltsame Weise, warum es gar nicht so einfach ist, zwischen Wahrheit und Erfindung zu unterscheiden.

„Fesselnd und faszinierend“ schrieb die New York Times nach der Uraufführung am 18.08.2018.

Fakten sind nebensächlich bis hinderlich, wenn sie das Erregungs-potential mindern. John D’Agata

Bilder
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Pressestimmen

Absturz zwischen den Wortwelten

Das kurze Leben der Fakten“ von Kareken, Murrell und Farrell im Zimmertheater Heidelberg – Deutschsprachige Erstaufführung

Von Heribert Vogt

Ein schlimmer Absturz steht im Zentrum des Dramas „Das kurze Leben der Fakten“: In Las Vegas stürzt sich der 16jährige Levi Presley vom 350 Meter hohen Stratosphere Tower in den Tod. Das wahrlich tiefgründige Stück des amerikanischen Autoren-Teams Jeremy Kareken, David Murrell und Gordon Farrell kam nun als Deutschsprachige Erstaufführung auf die Bühne des Heidelberger Zimmertheaters.

Aber ganz nah am Nerv unserer Zeit führt die Inszenierung von Intendantin Ute Richter zugleich einen zweiten Absturz intensiv vor Augen: nämlich im Zeitalter von Fake News und alternativen Fakten denjenigen aus dem vermeintlichen Besitz gesicherter Wahrheiten. Die Protagonisten des Dramas nach einer wahren Begebenheit verlieren sich zwischen den abgründigen und auseinanderdriftenden Wortwelten, dies allerdings auf so geistreiche wie unterhaltsame Weise.

„Was ist wirklich die Wahrheit?“ Diese am Ende gestellte Frage wird im Zimmertheater nicht wirklich beantwortet. Ute Richters Bühnenbild zeigt das stylische, metallisch schimmernde Ambiente des Domizils eines Hochglanzmagazins. Die Zeitschrift steht kurz dem Druck, in wenigen Tagen droht die Deadline. Und in der aktuellen Ausgabe will das Magazin mit einem Essay des renommierten Literaten John D’Agata (Werner Opitz) prunken, der sich mit dem Selbstmord des jungen Levi Presley auseinandersetzt. Jetzt ist der tiefschürfende Text nur noch einem Fakten-Check zu unterziehen, damit es nicht zu unliebsamen Reaktionen im Lesepublikum kommt. Was nur als formale Absicherung gedacht ist, führt jedoch zur totalen Verunsicherung.

Die erfahrene und lebenskluge Chefredakteurin Emily Penrose (Lena SabineBerg) hat für den vermeintlichen Routine-Job den Praktikanten Jim Fingal (Fabian Jung) auserkoren. Er soll über das verbleibende lange Wochenende der Fakten-Checker für den anspruchsvollen Essay sein. Womit jedoch niemand rechnet: Der ambitionierte Praktikant legt jedes Wort auf die Goldwaage, gelangt bei seinen Recherchen vom Hundertsten ins Tausendste, sodass schließlich dem 15seitigen Essay ganze 130 Seiten an Nachfragen gegenüberstehen. Wie soll das alles bis zur Deadline abgehakt werden?

Der Konflikt zwischen literarisch-kreativem und journalistisch-objektivem Schreiben spitzt sich zu und wird zu einem spannenden, sogar handgreiflichen Duell zwischen dem äußerst hartnäckigen Praktikanten und dem arrivierten Schriftsteller, der jede Kritik an seiner Schreibe abbürstet. In diesem mit zahlreichen Pointen gespickten Showdown nehmen beide Widersacher für sich in Anspruch, die Wahrheit um den Hochhaus-Selbstmord aufspüren zu wollen: der junge Fingal mit beinahe schon autistischer Konzentration auf sämtliche Details, der ältere Star-Autor – auch schon mal als „Norman Mailer“ angesprochen – durch literarisch freies Arrangement der Fakten.

Hier öffnet sich ein ganz weites und extrem brisantes Feld, in das Kampfbegriffe wie die „Lügenpresse“ hineinspielen. Denn je genauer man die sogenannten „Fakten“ unter die Lupe nimmt, desto weniger faktisch erscheinen sie häufig. Wahrheit ist deshalb zumeist relativ und hängt entscheidend von der Perspektive ab. Hilfreich kann hier ein Blick auf die pointillistische Malerei sein: Steht man ganz nah vor einem solchen Kunstwerk, sieht man die einzelnen Farbpunkte genau, aber erst aus der Entfernung nimmt man das Bild als Ganzes wahr.

In diesem Sinne will auch der Schriftsteller D’Agata „das große Ganze im Blick behalten“: Er nimmt es mit den Fakten nicht so ganz genau, um sie auf den Punkt zu bringen und auf diese Weise zu einer literarisch treffenden Aussage zu gelangen – im Falle seines Essays über den Tod eines Jugendlichen im amerikanischen „Glücksort“ Las Vegas. Auch Chefredakteurin Penrose hat inhaliert, dass wir vor allem „in Geschichten leben“ und ist deshalb ganz scharf auf den niveauvollen Essay, der ja schon als journalistisch-literarische Gattung keinen Wahrheitsanspruch erhebt, sondern vielmehr Fragen aufwirft und nach Antworten sucht.

Die eigentliche Lösung in diesem ganzen Wirrwarr um Wahrheit und Lüge liegt wohl im Erwerb von Medienkompetenz: Man muss unterscheiden können zwischen eher objektiven sowie tendenziell subjektiven Texten und beide Sorten auch gegeneinander abwägen, sodass man zu einem eigenen Weltbild gelangt. Und diesbezüglich macht der Praktikant Fingal einige Sorgen.

Denn über derartige Fähigkeiten der Differenzierung scheint er nicht zu verfügen, wenn er praktisch bei jedem Essay-Wort bis Adam und Eva recherchieren muss. Und das könnte recht repräsentativ sein für junge Leute, deren Weltbild sich im Internet-Zeitalter aus unendlich vielen Einzelpunkten zusammensetzt: Erblicken sie noch das große Ganze? Wenn nicht, kann das möglicherweise den folgenreichen Absturz einer ganzen Generation zwischen den Wortwelten bedeuten.

Aber auch in der Tageszeitung stößt man auf unterschiedliche Wortwelten, zum Beispiel in nachrichtlich-objektiven und feuilletonistisch-subjektiv geschriebenen Artikeln. Etwa in dieser Theaterkritik wird lediglich ein kleiner Bruchteil dessen thematisiert, was sich auf der Bühne des Zimmertheaters tatsächlich ereignet. Aber der Verfasser hegt dennoch die Hoffnung, durch Abstraktion einige Wahrheiten des Abends zutage fördern zu können.

Man sieht: Alles in allem eine aktuelle, spannungsreiche und außerdem zu mannigfaltigen Diskussionen inspirierende Aufführung. In der nicht zuletzt die moderne digitale Kommunikation von drei tollen Schauspielern gekonnt auf die analoge Bühne gebracht wird. Und natürlich abstrahiert auch das Theater von der äußeren Realität: Nun präsentierte es sehr gelungen „Das kurze Leben der Fakten“.

Starker Applaus.

Rhein-Neckar-Zeitung 30. November 2019


Dichtung und die bittere Wahrheit

Von Eckhard Britsch

Die „Fakten“ purzeln in der mittigen Bühnenmalerei übereinander und durcheinander und geben im Zimmertheater in Heidelberg die Richtung vor. Was ist Dichtung, was Wahrheit, wenn ein Essayist und ein penibler, journalistischer Faktenüberprüfer aufeinanderprallen? Spätestens seit Trump und seine Truppe den schnöden Begriff „alternative Fakten“ in die Welt gesetzt haben, um Lügen zu kaschieren, ist die Öffentlichkeit sensibilisiert für die Wertigkeit des veröffentlichten Worts, und naturgemäß haften die Printmedien in besonderem Maß für den Wahrheitsgehalt ihrer Texte.

Darum kreist das Stück „Das kurze Leben der Fakten“. Abonnenten- zahlen sinken, Anzeigenerlöse bröckeln, die Chefredakteurin kann sich in der Zwangsjacke von Gewinnorientierung („monetarisierbare Inhalte“) und Textqualität für ihr Hochglanzmagazin kaum noch bewegen. Dennoch versucht sie – von Lena Sabine Berg sehr sensibel, weniger als knallharte Macherin, sondern auch ihren Autoren und Mitarbeitern verpflichtete Chefin gespielt – den Spagat. Ein literarisch anspruchsvoller Essay eines renommierten Autors soll das Blatt aufpeppen. Es geht dabei um die Selbsttötung eines jungen Mannes. Doch vor der Veröffentlichung steht der Faktencheck, zumal im prozessfreudigen Amerika. Sind die Ziegel rot oder braun, nur so als Beispiel.

Viele Anmerkungen

Auch diese beiden Rollen sind ausgezeichnet besetzt und in der Regie von Ute Richter sehr nuanciert geführt, zudem mit subtilem Witz ausgestattet. Werner Opitz tritt als Essayist zuerst sehr selbstsicher auf, wird dann aber sukzessive vom Sockel geholt, besteht er doch darauf, dass sich Fakten auch einer Erzählstruktur leicht biegsam beugen sollten. Der Praktikant aber ist so ein richtiger Korinthenkacker, zu 15 Seiten Essay hat er 130 Seiten Anmerkungen. Fabian Jung zeichnet ihn nachvollziehbar in der Entwicklung vom dankbaren, schüchternen Anfänger, der seine Chance sieht, zum räsonierenden Rechthaber, der nur mühsam zu einem Kompromiss bereit ist.

Die deutschsprachige Erstaufführung des Stücks von Jeremy Kareken, David Murrell und Gordon Farrell wurde in Heidelberg perfekt in Szene gesetzt und bietet bei allem Text-Charme viel Stoff zum Nachdenken.

Mannheimer Morgen, 2.12.2019