Seit 50 Jahren erfolgreich gespielt.

Die Schlußfrage hallt uns noch in den Ohren: „Gibt denn keiner, keiner Antwort?“ Damit schließt Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“, das wir als Schülerin 1957 im Heidelberger Zimmertheater erlebten, zehn Jahre nach seiner Hamburger Uraufführung. Damals mußte man das Stück noch nicht nach Kroatien verlegen, um die Zuschauer zu berühren. Die fünfziger Jahre waren noch tiefste Nachkriegszeit für diejenigen, die am Aufschwung der Wirtschaft wenig Anteil hatten, und erst ein Jahr vor der Heidelberger Aufführung war es Konrad Adenauer gelungen, die angeblich nicht mehr existierenden Kriegsgefangenen aus Rußland nach Deutschland zu holen.

„Draußen vor der Tür“ war nicht das einzige Bühnenereignis, das uns im Gedächtnis haften blieb. Da könnte man viel aufzählen, denn am heutigen Tage blicken wir auf fünfzig Jahre Heidelberger Zimmertheater zurück. Das erfolgsverwöhnte Haus präsentiert gegenwärtig mit Eric-Emmanuel Schmitts „Enigma“ erneut einen theatralischen Wurf.

Das spannende Spiel mit doppeltem Boden und mit seinen kontrastreich angelegten zwei Protagonisten ist prädestiniert für eine kleine Bühne, und es konfrontiert den Besucher mit existenziellen Fragen.

Das Heidelberger Zimmertheater ist fest in der Stadt verwurzelt. Es zählt zu den attraktivsten Kulturangeboten und ist als anspruchsvolle Einrichtung nicht mehr wegzudenken. Bei seiner Gründung vor fünfzig Jahren war noch nicht abzusehen, wie erfolgreich sich die Initiative von fünf jungen Schauspielern entwickeln würde.

Das waren Jochen Ballin, Claire Hahn, Helga Schmidle, Karl-Heinz Walther und Brigitte Zepf. Ihr erstes Stück, „Die glücklichen Tage“ von Claude André Puget, brachten sie am 8. Januar 1950 heraus im ehemaligen Girl-Center in der Heidelberger Häusserstraße 24 in der Weststadt.

Der Erfolg muß umwerfend gewesen sein, denn 70 Aufführungen kamen zustande.

Im Anschluß trat das hoch motivierte Ensemble in fast allen Amerika-Häusern Deutschlands auf. Schon im Juni 1951 konnte die „Glasmenagerie“ von Tennesse Williams im heutigen Domizil in der Hauptstraße 118 gespielt werden.

Mit viel Tatkraft baute sich das engagierte Kollektiv ein Fotoatelier im Hause von Eduard Reichert aus. Diese bevorzugte Lage im Herzen der Altstadt ist nach wie vor das große Plus der kleinen Bühne, die sich durch Engagement und Einfallsreichtum auszeichnet.

Das Theater verfügt über 93 Plätze, die im Schnitt zu 94 Prozent genutzt sind, gelegentlich auch mal zu 98 Prozent. Es wird das ganze Jahr hindurch gespielt. Aufführungsfreie Abende sind selten. Mittlerweile kann auf über 320 Inszenierungen zurückgeblickt werden. Allein 76 davon besorgte die jetzige Prinzipalin Ute Richter. Das zweitälteste Privattheater Deutschlands (nach Hamburg) ist weit über die Grenzen Heidelbergs hinaus bekannt, denn es hat sich längst herumgesprochen, daß hier hauptsächlich anspruchsvolle zeitgenössische Stücke in exzellenten Einstudierungen geboten werden.

Der Rückblick auf fünf Jahrzehnte konzentriert sich auf drei wesentliche Stationen. Sie sind mit den Namen Karl-Heinz Walther, Gillis van Rappard und Ute Richter verbunden.

Bis 1960 leitete Karl-Heinz Walther die Geschicke des Zimmertheaters. Er war nicht nur Regisseur, sondern auch ein intensiver Schauspieler. 1961 wurde er als Theaterleiter abgelöst von Gillis van Rappard, der dem Zimmertheater bereits von 1954 an fest verbunden war, seit dem Stück „Hier bin ich – hier bleib‘ ich“. Ein vielsagender Titel, fürwahr. Gillis van Rappard, gleichermaßen spielerfahren wie regiegewandt, stabilisierte die Bühne und brachte sie auf ein solides Niveau mit Aufführungen wie „Endstation Sehnsucht“ oder „Tagebuch der Anne Frank“.

Zahlreiche Ur- und Erstaufführungen wurden vom Zimmertheater herausgebracht. Dazu traten auch Stars aus seligen Ufa-Zeiten auf wie Lilian Harvey oder Lida Baarova. Gillis van Rappard räumte den Avantgardisten der Nachkriegszeit, die inzwischen längst Klassiker geworden sind, eine Vorzugsstellung im Repertoire ein. Tennessee Williams, Anouilh, Sartre, Albee standen ebenso auf dem Spielplan wie Brecht, Giraudoux, Arthur Miller, Pinter, Saunders oder Ayckbourn.

Rappard war den älteren Theatergängern damals noch aus seinen jungen Jahren bekannt.

Da hatte er bei den berühmten Heidelberger Schloßfestspielen den Lysander in Shakespeares „Sommernachtstraum“ gespielt. Er war nach seiner Berliner Zeit am Renaissancetheater an mehreren bedeutenden Bühnen tätig gewesen, kannte sich genau im Schauspiel wie sogar in der Oper aus. Ihm hatte das Zimmertheater viel zu verdanken. Unvergeßlich seine Verkörperung von Molières „Geizigem“ in der Inszenierung von Ute Richter.

Seit dem 10. Januar 1985 – auch dies also ein Jubiläum, wenn auch nur eines von fünfzehn Jahren – leitet Ute Richter das Zimmertheater.

Sie ist von Hause aus Psychologin, hat aber seit ihrer Kindheit engste Kontakte zum Theater. Mit zehn Jahren hat sie am Mannheimer Nationaltheater Kinderrollen gespielt und wurde in dieser Eigenschaft im Laufe der Zeit von mehreren Funkanstalten als Sprecherin verpflichtet. Sie trat die Nachfolge ihres Mentors Gillis van Rappard an, dessen Verdienste um die kleine, feine Bühne sie stets ins rechte Licht rückte. „Ich habe alles von ihm gelernt“, bekennt sie.

Ute Richter weiß sich auch in der Welt der Literatur zuhause.

Ihre facettenreich das jeweilige Thema umkreisenden Programmhefte sprechen da eine deutliche Sprache. Gewöhnlich ist sie auch für die Gestaltung der Bühne verantwortlich und für die Auswahl der Hintergrundmusik. Bei ihrer vorletzten Einstudierung, bei Thomas Bernhards Stück „Über allen Gipfeln ist Ruh“, hat sie zum Beispiel die Endlos-Monologe des Protagonisten mit der repetitiven Minimal Music von Philipp Glass unterlegt.

Es gelingt der Regisseurin vorzüglich, den Theaterbesucher für eine bestimmte Problematik zu sensibilisieren und sein Augenmerk in die von ihr intendierte Richtung zu lenken. Nachdem sich Ute Richter als „rechte Hand“ und Dramaturgin bei Gillis van Rappard unentbehrlich gemacht hatte, legte sie 1976 ihre erste eigene Inszenierung vor. Es war „Equus“ von Peter Shaffer, der in den Achtzigern durch die Verfilmung seines „Amadeus“ berühmt wurde. Dieses Stück wurde ein Riesenerfolg.

Es folgten Einstudierungen wie Sartres „Schmutzige Hände“, „Amphytrion“ von Peter Hacks, „Die Dame von Dingsville“ von Edward Albee, und aus jüngster Zeit seien Thomas Bernhards „Über allen Gipfeln ist Ruh“ und „Enigma“ von Eric-Emmanuel Schmitt erwähnt.

Zwar ist Ute Richter durchaus als Schülerin Gillis van Rappards zu bezeichnen, dennoch hat sie konsequent einen eigenen Stil entwickelt. Neben ihren vielen Meriten verfügt sie auch über ein ausgeprägtes Gespür für das Komödiantische, obwohl der Begriff „Boulevard“ auf ihre Inszenierung eher komischer Stücke nie recht zutraf. Es war da doch immer etwas Hintersinn mit im Spiel. Ute Richter will erreichen, daß ihre Einstudierungen dem Besucher im Gedächtnis haften bleiben. Dabei kennt sie auch keine Scheu, unbekannte Dramen aufzuführen.

Als gutes Beispiel dafür, wie fest das Zimmertheater in Heidelbergs kulturellem Leben verankert ist, kann sein Freundeskreis genannt werden. Er wurde 1953 von einer treuen Schar theaterbegeisterter Heidelberger ins Leben gerufen. Die treibenden Kräfte waren Otto von Braunbehrens, Elisabeth Geck und Prof. Karl Geiler. Auch Heinz Ohff, in weit zurückliegenden Jahren Feuilletonchef des Heidelberger Tageblatts und später beim Berliner „Tagesspiegel“, war dabei.

Große Verdienste um den rührigen Freundeskreis erwarb sich auch der Heidelberger Physiologe Prof. Hans Schaefer.

Diese Institution sprang ein, wenn Not am Mann war, und das kam gelegentlich vor. Auch die Stadt und die Industrie eilten zu Hilfe, wenn scheinbar unlösbare Probleme auftauchten.

Heute verfügt das Zimmertheater über einen Jahresetat von über einer Million Mark. Die Eigeneinnahmen betragen fünfzig Prozent. Von der Stadt kommen rund 365.000 Mark, vom Land ca. 170.000 Mark. Die Eintrittspreise liegen zwischen 17 und 30 Mark. Auch Wahlabos und Gutscheine sind zu erwerben. Kartenreservierung ist immer ratsam. Im Jahr finden 300 bis 320 Aufführungen statt, pro Inszenierung 75 bis 100.

Eine Person darf nicht unerwähnt bleiben. Das ist Jochen Ballin, ein Mann der ersten Stunde, eines der fünf Gründungsmitglieder des Zimmertheaters. Er ist noch heute aktiv dabei und nicht nur im Hintergrund. Manchmal spielt „Mr. Zimmertheater“, als den ihn der frühere OB Zundel apostrophiert hat, noch kleine Rollen, und das freut die anhänglichen Heidelberger dann sehr, denn Ballin ist ein Publikumsliebling alten Stils.

Er gehört zum Inventar, und man sieht ihm seine fast 75 Lenze nicht an. Der Schauspielerberuf hält ihn jung, und er steht seiner Chefin so gut er kann zur Seite.

Was hat uns bei den vielen Stücken, die wir in den zurückliegenden Jahren sahen, am meisten berührt?

Das war im Jahr 1990 zweifellos „Liebe Jelena Sergejewna“ von Ljudmila Rasumovskaja.

Die Eindringlichkeit dieser Inszenierung war so groß, daß ein hypersensibler Besucher auf die Bühne springen wollte, um die drohende Vergewaltigung einer Frau zu verhindern. Die Illusion war also perfekt, das Spiel von der Wirlichkeit nicht mehr zu unterscheiden. Ein Jahr später dann „Das Erwachen“ von Julian Garner, eine Deutsche Erstaufführung, die ebenfalls unter die Haut ging.

Bei unserer – subjektiven – Auswahl sei auch „Sense!“ vom Oktober 1989 nicht vergessen. Auch hier hatte sich Ute Richter die Deutsche Erstaufführung gesichert. In dem Stück des Engländers Stephen Bill ereignet sich in einer Mischung aus Komödie und Tragödie der Tod auf dem Theater, und dieser Tod ist von aktueller Brisanz, weil er sich so oder ähnlich Tag für Tag abspielen könnte.

Es geht um Sterbehilfe, damit auch um den Umgang unserer Gesellschaft mit den Alten und Schwachen.

Die besondere Wirkung dieses Stücks resultierte im wesentlichen daraus, daß eine ganz „normale“ Familie dargestellt wurde, die nach außen hin Eintracht und Frohsinn demonstriert, hinter der Fassade aber Lieblosigkeit und Gleichgültigkeit sichtbar werden läßt. „Sense!“ warf heikle Fragen auf und führte nach seiner Aufführung zu entsprechend heftigen Debatten.

Die derzeitige Inszenierung, Eric-Emmanuel Schmitts „Enigma“, beschert erneut einen spannenden und ergiebigen Theaterabend.

Die vielen großen Erfolge, die das Zimmertheater einheimsen konnte, sind um so erstaunlicher, da sich die kleine Bühne natürlich kein festes Ensemble leisten kann. Die Schauspieler werden von Stück zu Stück engagiert über Bühnenvermittlungen oder weil man sie von einer früheren Zusammenarbeit her kennt. Für die rechte Auswahl der Mimen hat Ute Richter stets ein „Händchen“ bewiesen. Außerdem sei neben der Theaterchefin und Regisseurin auch die Dramaturgin Ute Richter nicht vergessen.

Das Zimmertheater war uns zu allen Zeiten ein bevorzugter Veranstaltungsort – nicht nur bei den hauseigenen Inszenierungen. Im Haus Hauptstraße 118 tritt hin und wieder die Sängerin Joana auf, oder das Bosart-Trio lädt ein zu anspruchsvollen musikalischen Späßen. Gastspiele dieser Art gab es schon in weit zurückliegenden Jahren. Wir erinnern uns da an einen erinnerungsträchtigen Abend in den Fünfzigern. Da stand eine Diseuse mit dem Bühnennamen Monika de Witt auf den Brettern. Sie sang ein Chanson mit dem Refrain „Kleopatra die Nilfrau war eine Sexappeal-Frau“. Am Klavier begleitete sie ein junger, gutaussehender (aus Heidelbergs Weberstraße stammender) Mann mit Chopins a-moll-Walzer. Das war Karl Berger, der heute in New York lebend als der Welt bester Vibraphonist gepriesen wird.

Heide Seele, RHEIN-NECKAR-ZEITUNG, 8./9. Januar 2000.